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Datum: 16.12.2021

Nie müde werden: Es gibt viel zu tun!

Lucie Yapi: Von der Elfenbeinküste nach Baddeckenstedt

Lucie Yapi hat einen beeindruckenden Weg hinter sich. Nach einem Studium in Marketing und Kommunikation in der Elfenbeinküste, ihrer Heimat, arbeitete sie zunächst dort als Werbung-Leiterin.

Wie fing Ihr ehrenamtliches Engagement an?

Schon an der Uni in der Elfenbeinküste engagierte ich mich ehrenamtlich 2003-04 im Kampf gegen AIDS, das damals im Land grassierte. Ich gründete mit ein paar Kommilitoninnen eine Organisation, um über HIV aufzuklären und wir führten fünf Jahre lang Aufklärungskampagnen in Studentenwohnheimen und Städten mit hoher Inzidenz durch. Dieses absolute Tabu-Thema anzugehen, war kein leichtes Unterfangen. Man brauchte viel Mut, um zum Beispiel Kondome zu verteilen und ganz konkret aufzuklären. Ich bin wie viele andere in einer sehr traditionellen Familie aufgewachsen, in der Sexualität tabuisiert war.

Wie kamen Sie zu diesem Engagement?

Der Auslöser war ein schmerzhaftes Erlebnis. An der Uni wohnten wir mit mehreren Kommilitoninnen in einem Studentenwohnheim zusammen. Als eine von uns nach den Sommerferien nicht mehr zurückkam und auch kein Lebenszeichen von sich gab, gingen wir sie in ihrer Familie besuchen. Wir fanden heraus, dass sie an AIDS erkrankt war und dass ihre Familie sich so dafür schämte, dass sie sie versteckte. Unsere Freundin, eine kluge 21-Jährige, war stark erkrankt. Damals gab es keine Behandlung. Sie starb. Heute noch erfüllt es mich mit Schmerz und Trauer, wenn ich an sie denke. Im Berufsleben engagierte ich mich weiter ehrenamtlich für zwei Organisationen zu den Themen HIV sowie ungewollter Schwangerschaft bei Teenagern.

Sie leben jetzt in Deutschland. Wie ging es für Sie weiter?

Ich kam 2019 nach Deutschland und engagierte mich zunächst in Hannover beim Verein BAOBAB, der in den Themen Gesundheit und Teilhabe für Geflüchtete tätig ist. Es ging dabei um die Bekämpfung von weiblicher Genitalverstümmelung. Ich organisierte Veranstaltungen und Kampagnen mit. Sich zu diesem Thema zu äußern und zu kämpfen ist eine riesige Herausforderung. Es geht um ein Ritual, das heute noch in vielen Familien stattfindet und den Übergang von einem Mädchen-, in der Regel mit 12 Jahren, in das Frauenleben bedeuten soll. Es ist in traditionellen Familien weit verbreitet und NEIN zu sagen bedeutet oft, mit der Familie komplett zu brechen. Meistens haben die sich auflehnenden Mädchen das Gefühl, die Familie zu verraten. In der Vereinsarbeit brachte ich meine persönliche Erfahrung ein. Nur im gegenseitigen Austausch und mit der Unterstützung mutiger Frauen, die sich gegen diese grausame Praxis aufgelehnt haben, kommt man voran. Es ist machbar, aber nicht einfach. Was mich betrifft, habe ich einen Teil meiner Familie nach Kontaktabbruch seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Ich weiß aber auch, dass diese Praktiken in meiner Familie jetzt beendet wurden und das erfüllt mich mit Stolz.

Sie engagieren sich jetzt in der Samtgemeinde Baddeckenstedt. Wie kam es dazu und was ist da Ihre Aufgabe?

Als ich nach Baddeckenstedt zog, nahm ich Kontakt auf mit Frau Ahmann auf, die für Soziale Angelegenheiten in der Samtgemeinde zuständig ist. Es stellte sich heraus, dass neben anderen Gemeinschaften, die arabisch oder auch russisch sprechen, viele Migrant*innen aus Afrika in der Samtgemeinde leben. Ich entschied mich dazu, diese Gemeinschaft ehrenamtlich zu begleiten. Die Themen sind vielfältig: Wohnung und Lebensbedingungen, Arbeitssuche, Ausgrenzung und Rassismus, gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinde, bessere Beziehungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten... Die Flüchtlingsvertretung gibt mir viel Freude, ich habe da eine schöne Gemeinschaft gefunden, in der sich die Mitglieder aktiv beteiligen. Die gemeinsame Vorbereitung der interkulturellen Woche war dabei ein Höhepunkt.

Durch diese ehrenamtliche Tätigkeit lernte ich das MigrantenElternNetzwerk kennen. Ich trat dem Netzwerk bei, um das deutsche Schulsystem zu verstehen und dann meine Gruppe zu informieren.

Auch beim DRK-Kreisverband Wolfenbüttel nahm ich mit großem Interesse an einer Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Beeinträchtigung und Behinderung aus interkultureller Perspektive“ teil.

Ein Problem bei der Flüchtlingsvertretung, das in der Gruppe vorherrscht, ist die Schwierigkeit beim Lesen und Schreiben. Ich habe mir zur persönlichen Aufgabe gemacht, Menschen dabei zu helfen, Informationen zu verstehen. Die Betroffenen werden mit vielen Briefen und Formularen konfrontiert, die sie leider kaum verstehen. Durch voice mails und persönliche Ansprache versuche ich zu helfen.

Außerdem sehen viele Menschen vor lauter Probleme nicht, was um sie herum passiert. Ich sehe mich als Brückenbauerin und versuche, sie für ihr Umfeld zu sensibilisieren. Demnächst sind mit der Samtgemeinde online Workshops zu diversen Themen geplant, wie zum Beispiel das ganz wichtige Thema des Schulsystems. Viele zugewanderte Menschen verstehen das komplexe deutsche Schulsystem nicht. Für viele ist es ungewohnt, dass schon nach dem 4. Grundschuljahr eine wichtige Entscheidung für die Schullaufbahn des eigenen Kindes getroffen wird. Die Erfahrung habe ich selbst mit meinem Sohn gemacht und war verunsichert, als er nach Beendigung der 4. Klasse die Schule wechseln sollte. Wie es für ihn schulisch weitergehen sollte, war mir zunächst völlig unklar.

Was bringt Ihnen persönlich das Engagement?

Ich bin gerne aktiv und tue das, was ich tun kann. Für andere da zu sein, nützlich zu sein, ist mir sehr wichtig. Freiwillige Arbeit gibt mir das gute Gefühl, anderen zu helfen. Im Austausch und in der Gemeinschaft vergisst man die eigenen Schwierigkeiten. Was wäre es denn für ein Leben, wenn wir Menschen nicht mehr füreinander da wären? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sich zu beteiligen, zu helfen, gibt Sinn.

Was wäre Ihr persönlicher Wunsch?

Ich wünsche mir, dass die Corona-Pandemie endlich mal vorbei ist. Home-Schooling ist eine Katastrophe für viele Migranteneltern. Auch wenn viele Eltern im Lockdown zu Hause waren, konnten sie in der Regel wegen mangelnde Sprach- und Digitalkenntnisse ihre Kinder beim Lernen nicht unterstützen.

Ich wünsche mir auch eine bessere Aufklärung von Migrant*innen zum Thema Impfen. Dazu kursieren die abenteuerlichsten falschen Informationen. Und diese halten sich hartnäckig.

Ich wünsche mir Sprachkurse für alle Geflüchtete und nicht mehr auf Grundlage von Aufenthaltsstatus und Herkunftsland.

Ich wünsche mir, dass Geflüchtete so gestärkt werden, dass sie aus ihren Gemeinden herauskommen und auf Deutsche zugehen können, mit Offenheit, Interesse und Vertrauen.

Ich wünsche mir, dass Migranteneltern das deutsche Schulsystem besser beherrschen, sodass sie ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten können.

Ich wünsche mir, dass Eltern insgesamt offener über Vieles mit ihren Kindern sprechen lernen, jenseits aller Ängste und Tabus.

Viele Menschen denken: Hier sind Migrant*innen angekommen, hier sind sie in Sicherheit, der Krieg ist weit weg. Aber es gibt noch so viel zu tun. Ich will mit anpacken.

Das Gespräch führte Ghalia El Boustami