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Datum: 10.11.2021

Harald Seiler - ein Nachruf

Einen wichtigen Begegnungsort in Hornburg wird es in diesem Jahr nicht mehr geben. Viele Kinder und Jugendliche werden von nun an nicht mehr im „Bunten Sofa“ einkehren, dort immer ein offenes Ohr finden, sowie Hilfe für die Bewältigung ihrer Hausaufgaben. Werdende Mütter, die die Beratung einer Hebamme brauchen, junge Männer, die sich in vertrauter Runde sportlich betätigen wollen, müssen nun andere Kanäle finden, um Unterstützung zu erhalten. Auch die zahlreichen Kooperationspartner*innen des „Bunten Sofas“ werden es vermissen – keine gemeinsame Planung der Interkulturellen Woche mehr, und damit auch ein wichtiges Angebot für geflüchtete Menschen und auch einheimischen Kinder und Jugendlichen in Hornburg weniger. Vor allem aber werden sie alle einen Menschen vermissen: Harald Seiler, den Gründer der Initiative, der auch viel mehr als das war – ein außergewöhnlicher Pädagoge und Mensch, der philosophische Ruhe und Güte ausstrahlte.

Wer Harald Seiler war, erzählen uns seine langjährige Lebenspartnerin, die auch im Bereich der Flüchtlingshilfe tätig ist, und sein Sohn. Die warmen Worte und Erinnerungen lassen erahnen, was für eine Lücke Harald Seiler hinterlässt, seitdem er dieses Leben nach einer langen und schweren Krankheit im Frühjahr 2021 verließ.

Harald Seiler hatte keinen leichten Start ins Leben. Als zweites von fünf Kindern 1946 in Ostdeutschland geboren, erlebte er eine Kindheit, die von der Armut der Nachkriegszeit geprägt war. In den 1950er Jahren flüchtete die Familie von Ost- nach Westberlin. Dort lebte dann in einem Flüchtlingsheim, wo er Gewalt erlebte und viele schlechte Erfahrungen machte. Er entschied, es später einmal besser zu machen. Für einige Jahre lebte die Familie dann auf einem Bauernhof bei Osnabrück. Der junge Harald traf auf eine Grundschullehrerin, die an ihn glaubte und ihn so gut unterstützte, dass er anschließend auf ein Gymnasium gehen konnte. Er erfuhr: Schule ist etwas Positives. Schule kann ein Leben verändern. Menschen, die einem dabei die Hand reichen, sind extrem wichtig.

Der Weg verlief nicht geradlinig. 1961 war die Familie zurück nach Ostberlin gezogen. Als Harald eines Tages nach einem Sporttrainingslager zurückkam, stellte er fest, dass er schlichtweg von der Familie getrennt worden war. Die Mauer war gerade gebaut worden. Er konnte erst mal bei seiner älteren Schwester Unterschlupf finden.

Da er erst seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen musste, ging er zur Polizei, wo er über ein Sportstipendium eine Stelle bekam. Als er ca. 1970 in einer Buchhandlung einige Exemplare der legendären Kulturzeitschrift „Kursbuch“ entdeckte, dachte er, das ist es! Der junge Harald beschloss, sein Leben von da an in den Dienst der Bildung zu stellen. Er hatte schon sein Abitur nachgeholt, dann studierte er Mathematik und Geschichte auf Lehramt. Über Umwege und mit viel Mut und Ausdauer kam er in den Schuldienst. Er hatte sich freiwillig als Vertretungslehrer in Spandau beworben und hielt diese anstrengende Arbeit drei lange Jahre durch, bis er endlich vom Schulamt eine reguläre Stelle an einer Gesamtschule in Spandau erhielt. Er hatte sich selbst darauf beworben und die drei vorangegangenen Jahre, in denen klar geworden war, dass sein Beruf auch für ihn eine Berufung war, sprachen für ihn.

Harald Seiler arbeitete 37 Jahre lang als Lehrer und war für alle Schüler*innen da. Sein Lebensmotto war: Bildung für alle! Er hatte ein Auge für jede besondere Lage, ob ein Schüler zu Hause finanzielle Probleme hatte, oder die schlechten Gewohnheiten eines anderen daher rührten, dass dieser nie mit seinen beiden berufstätigen Eltern gemeinsam gegessen hatte – er hatte ein gutes Gespür für jede Situation und versuchte, pragmatische und menschliche Antworten für jedes Problem zu finden. Schon in seiner Zeit als Lehrer gab Harald Seiler jungen Menschen, deren Eltern es sich nicht leisten konnten ehrenamtlich Nachhilfe.

Nach seiner Pensionierung im Jahre 2011 lernte er seine Frau kennen und zog nach Hornburg, wo er heimisch wurde. Als 2015 eine Million geflüchtete Menschen nach Deutschland kamen, erkannte er die Aufgabe, die die Situation mit sich brachte, und gründete das „Bunte Sofa“, einen Sozialen Familientreffpunkt und sein letztes Herzensprojekt. Er mietete privat einen kleinen Laden an, besorgte Tafeln, Tische und Stühle, Schulmaterial und Sportgeräte. Seitdem kamen regelmäßig mehr als 30 Schüler*innen.
Die erste Aufgabe bestand darin, geflüchteten Menschen bei der Antragsstellung zu unterstützen. Sehr schnell übernahm Harald Seiler die Nachhilfe in Deutsch, später auch in anderen Schulfächern. Schwangeren wurde geholfen, indem eine Hebamme regelmäßig zur Beratung kam. Es wurden für die jungen Leute Fitness- und Sportgeräte angeschafft. Der Sporttreff war sehr beliebt und bot Tätigkeiten, die nicht nur kopflastig waren. Sehr wichtig für Harald Seiler war die Begegnung zwischen Geflüchteten und Einheimischen. So war das Bunte Sofa ein beliebter Treff für alle. Nachhilfe erhielten auch einheimische Kinder, deren Eltern sich diese nicht leisten konnten. Harald Seiler nahm vielen Schüler*innen und Student*innen die Lernblockaden und Ängste vor der Schule.

Es hatte sich ein Team von Ehrenamtlichen um das „Bunte Sofa“ gebildet. Darüber hinaus hatte sich Harald Seiler mit diversen Firmen und Stellen vernetzt sowie nach möglicher Förderung gesucht. Ob ein Busunternehmen, ein Autohaus, die bereit waren, junge Geflüchtete als Auszubildende aufzunehmen, oder die Sparkasse, die Sportgeräte finanzierte – er suchte unermüdlich nach neuen Kontakten und Möglichkeiten, das „Bunte Sofa“ am Leben zu halten und weiterzuentwickeln.

Harald Seiler war es auch wichtig, teil der Dorfgemeinschaft zu sein. Er engagierte sich bei der SPD Hornburg und wurde zum Vorsitzenden des Präventionsrates gewählt.

Als er 70 Jahre alt wurde, wurde eine bösartige Krankheit bei ihm diagnostiziert. Das hinderte ihn nicht daran, sich weiterhin beim „Bunten Sofa“ zu engagieren. Erst nach einem Herzinfarkt im Februar 2021 kündigte er das Lokal. Bis zu seinem Tode hatte er 12 Schüler*innen, die er online unterrichtete, als die Corona-Pandemie kam. Nun sind andere dran, dieses Engagement weiterzuführen. Als Mensch hinterlässt Harald Seiler eine große Lücke - und sehr viel Liebe.

Das Gespräch mit Kolja Seiler führte Ghalia El Boustami